Zwischen den Orten
VON BELINDA GRACE GARDNER
21. Februar 2023
FOTO: HENNING ROGGE
21. Februar 2023
Es gibt keine Gewissheiten, wenn man in der Welt eine Durchreisende ist. Dafür steht der Nebel, der sich leitmotivisch durch die lyrischen Texte von Etel Adnan hindurchzieht. »Nur im Nebel fühle ich mich ganz«, schreibt die Dichterin, Dramatikerin und bildende Künstlerin libanesischer Herkunft.»Zeit ist mein Land, Nebel ist mein Land.« Geboren 1925 in Beirut und 2021 in Paris verstorben, wuchs Adnan multilingual in einem arabischen Umfeld auf. Zuhause wurde Griechisch und Türkisch gesprochen, in der Schule Französisch. Spätere Literatur verfasste sie in Englisch. Ihr Leben verlief mäandernd von ihrem Geburtsland Libanon nach Frankreich bis in die USA, und von der kalifornischen Bay Area über Beirut zurück nach Sausalito, Kalifornien, und schließlich nach Paris.
Ende der 1950er-Jahre malte Adnan die ersten abstrakten Landschaften von leuchtender Farbigkeit und intensiver kompositorischer Stringenz, als weiche darin der Nebel einer profunden Klarheit. Ein wiederkehrendes Motiv ist der Berg Mount Tamalpaïs in Marin County nördlich von San Francisco, den Adnan von ihrem Arbeitszimmer aus stets im Blick hatte. In zahllosen Bildern hielt sie ihn im Wechsel der Tages- und Jahreszeiten fest.
Ein Sujet, das Dauer und Wandel vereint und so für sie zum Inbegriff von Heimat und Zugehörigkeit wurde: »Wir sind, denn der Berg ist unveränderlich und verändert sich ständig. Unsere Identität ist das unaufhörliche Werden des Berges, unser Friede seine eigensinnige Existenz.«
Benannt nach dem Titel ihrer poetischen Memoiren, In the Heart of the Heart of Another Country
widmet sich die gegenwärtige Ausstellung in der Halle für aktuelle
Kunst der Deichtorhallen Hamburg vielfältigen »Erzählungen aus der
Diaspora«, wie ihr Untertitel verrät. Kuratiert von Omar Kholeif,
vereint die Ausstellung rund 150 Kunstwerke von über 60 Künstler*innen
aus der internationalen Sammlung der Sharjah Art Foundation.
IN THE
HEART OF ANOTHER COUNTRY bündelt Positionen von Kunstschaffenden aus
drei Generationen, die vor dem Hintergrund von Exil-, Migrations-,
Entwurzelungs-, Kriegs- und Krisenerfahrungen arbeiten. Oft weit
entfernt von ihren ursprünglichen Geburtsorten lebend, überschneiden
sich ihre Pfade auf der Suche nach Identität, Selbstvergewisserung und
einem Gefühl von Zuhause-Sein jenseits der zurückgelassenen oder
verlorenen heimatlichen Anbindung.
Der aus Beirut stammende Künstler Marwan Rechmaoui wuchs in der
Golfregion und in den USA auf. Erst als Erwachsener kehrte er in seine
Geburtsstadt zurück, die er seitdem wie ein Archäologe erkundet. Sein
aschegraues Bodenrelief Beirut Caoutchouc gleich zu
Beginn des Ausstellungsparcours zeichnet das lokale Straßengeflecht und
die bebauten Areale in einem überdimensionierten Stadtplan nach und
fungiert zugleich als Verweis auf die vielen Erschütterungen Beiruts im
Zuge des libanesischen Bürgerkriegs von 1975 bis 1990, die sich in die
Wirklichkeit der Stadt eingeschrieben haben.
Die Ruine eines Hochhauses im Zentrum Beiruts, in dem sich während
des Bürgerkriegs Scharfschützen verschanzten, Munition gelagert und
Verhöre geführt wurden, replizierte der Künstler als karges, mahnendes
Betonmodell: ein Monument for the Living so auch der Titel des
Werkes. Denn im Gedächtnis der (Über-)Lebenden werden die Geschichten
bewahrt, aus denen Zukunft Gestalt annimmt.
Adnan, die ihr Leben »mit Krieg verwoben« sah, fügt in ihren Werken
arabische und westliche Einflüsse, Erlebnis- und Gedankenräume zu
vielsträngig verflochtenen Sprachbildern und leuchtenden Mosaiken ihres
kosmopolitisch-transkulturellen Daseins zusammen. Als würden zur selben
Zeit verschiedene Perspektiven zusammenkommen, deuten in ihrem
Wandteppich Mount Tamalpaïs
landschaftliche Überlappungen auf die grenzüberschreitende Überwindung
fester örtlicher Fixierungen im geistigen Areal der Fantasie. Neben
einer weiteren Tapisserie und kleinformatigen Ölgemälden der Künstlerin
setzt die farbstarke Evokation des heimatspendenden Berges einen
Orientierungspunkt in der vielschichtigen Textur der Ausstellung.
In einem dialogischen Prozess dazu entstanden die
literarisch-mythisch verankerten, totemistischen Tonskulpturen der
Lebenspartnerin Etel Adnans, der Malerin und Bildhauerin Simone Fattal,
die ebenfalls in Paris Philosophie studierte. Die 1942 in Damaskus, Syrien, geborene, im Libanon aufgewachsene Fattal und Adnan lernten sich in den 1960er Jahren in Beirut kennen. Durch den Bürgerkrieg zur Auswanderung gezwungen, ließen sich die Künstlerinnen erst in Sausalito, dann in Paris nieder.
In ihrer Arbeit mit schwarzen arabischen
Schriftzeichen auf Lavasteinfliesen, In Our Lands of Drought the Rain Forever is made of Bullets, greift Fattal eine
Zeile aus Adnans Gedicht Jebu auf: eine Klage über die Schrecken von
Kriegsgewalt, forcierter Flucht und damit einhergehender existenzieller
Not.
Die Weitergabe von Narrativen und Traditionen durch Texte und
mündliche Überlieferung wird in der Ausstellung mehrfach als
essenzielles Vehikel der Krisenbewältigung und der Erhaltung
gemeinschaftlicher Historie und Identität greifbar. Klassische Ornamente
in Schwarz-Gold aus der seit Jahrzehnten umkämpften Region Kaschmir
durchwirken den doppelgesichtigen Kashmiri Shawl der
pakistanischen Künstlerin Aisha Khalid. Auf der blutroten Rückseite des
kostbaren, großformatigen Pashmina ragen unzählige spitze Nadeln hervor,
deren funkelnde Köpfe von vorn ein anmutiges Muster bilden: Die
traumatische Alltagswirklichkeit im Konfliktgebiet wird als gefährliche
Unterfütterung hinter der dekorativen Fassade spürbar.
Der 1951 im Iran geborene, 2016 in Dubai gestorbene Pionier
konzeptueller, experimenteller und performativer Kunst, Hassan Sharif,
schuf seit seinem Aufenthalt in London Buchobjekte aus Fundstücken als
vielgestaltige Bestandsaufnahme des Alltäglichen zwischen Komposition
und Zufall. Aus den Seiten arabisch-englischer Wörterbücher, die er an
Schnüren befestigte, kreierte der Künstler 2015 seine voluminöse
Wandskulptur Dictionary. Hier ballen sich die zerlegten Medien
des sprachlichen Erwerbs, der Übersetzung und Verständigung zum verbalen
Blätterrauschen.
Für die Installation Slippers and Wire türmte
Sharif bunte Plastiklatschen zu einem riesigen Haufen auf: Ein Berg,
der an die verzweigten Routen von Auswanderer*innen denken lässt, und an
die unendlich vielen, dabei zurückgelegten Schritte.
Auf die Durchbrechung weiblicher Rollenklischees und
Mobilitätseinschränkungen für Frauen in ihrem heimatlichen Saudi-Arabien
zielt Sarah Abu Abdallah mit ihrem bonbonrosafarbenen Autowrack im
Foyer der Halle für aktuelle Kunst. Es dient zugleich als Abspielstätte
für ein Video, das die Künstlerin beim Bemalen des schrottreifen
Gefährts portraitiert: eine Aktion der Selbstbefreiung mit
gesellschaftskritischer Aussagekraft.
Vom Persönlichen zum Politischen
weitet sich auch das von der Decke hängende Holzboot mit freischwebendem
Anker des in Beirut und San Francisco lebenden libanesischen Künstlers
Rayyane Tabet. Als Teil seines skulpturalen Ensembles Five Distant Memories, symbolisiert die Installation Cyprus
die gescheiterte Flucht von Tabets Vater während des libanesischen
Bürgerkriegs in ebenjenem Kahn, der sich als zu instabil für die
Überfahrt nach Zypern erwies.
Die Fragilität und Festigkeit von Bauten, Booten, Bildern, Texten und Textilien, Schriften und Entwürfen lassen sich in der Ausstellung als Fragmente vielstimmiger Erzählungen aus den fluktuierenden Zwischenräumen des Unterwegsseins wiederfinden, die sich in immer größer werdenden Kreisen ausdehnen.
Diese mannigfaltig vernetzten künstlerischen Formulierungen und Formgebungen, die zum Teil erstmals außerhalb ihres Ursprungskontexts präsentiert werden, vergegenwärtigen aber nicht nur eindringlich die Geschichte und Geschichten von Entwurzelung, Heimat-und Identitätsverlust. Sie konkretisieren auch Visionen für ein kollektives Zusammenspiel sich gegenseitig bereichernder und befreiender Narrativen, in denen das Eigene und das Andere als gemeinsamer Erfahrungshorizont ortsübergreifend tragfähig wird.
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Belinda Grace Gardner, Kunst- und Literaturwissenschaftlerin,
lebt in Hamburg als freie Kunstkritikerin, Autorin, Hochschuldozentin
und Kuratorin.
Die Ausstellung IN THE HEART OF ANOTHER COUNTRY – ERZÄHLUNGEN AUS DER DIASPORA. WERKE DER SHARJAH ART FOUNDATION ist noch bis zum 12. März 2023 in den Deichtorhallen Hamburg zu sehen.