Folge 1: Stadionverwaldung

Das Verhältnis zwischen Kunst und anderen Bereichen wie Mode, Design, Politik oder Wissenschaft ist kompliziert geworden. Oft ist nicht mehr klar, ob es sich bei den gegenseitigen Annäherungen um eine raffinierte Strategie oder um ein Versehen handelt. Es droht Beliebigkeit – doch jenseits alter Grenzen und Kategorien entsteht etwas Neues VON WOLFGANG ULLRICH

23. September 2019

Teilen

Im Jahr 1923 veröffentlichte Paul Valéry Eupalinos, einen Dialog im Stil Platons. Darin lässt er Sokrates erzählen, wie er als 18-Jähriger bei einem Spaziergang am Meer einen Gegenstand fand, den er nicht einzuordnen vermochte. Er konnte nicht einmal entscheiden, ob es sich bei dem »zweideutigsten Objekt der Welt« um ein Stück Natur oder um ein menschliches Artefakt handelte. Doch statt die Ambiguität zu genießen, verdross es Sokrates, nicht weiter zu wissen. Daher warf er den Gegenstand zurück ins Meer, ging landeinwärts und widmete sich fortan nur noch der Philosophie: den Begriffen und Definitionen, dem Streben nach Klarheit und Eindeutigkeit.

Auch für Kunst galt es lange als wichtig, sie strikt abzugrenzen und vor Verwechslungen mit anderem zu schützen. Man mochte es zwar, wenn einzelne Werke vieldeutig waren, doch Kunst sollte Kunst sein und alles andere alles andere, wie es Ad Reinhardt formulierte. Allerdings scheint es, als würden solche Parolen mittlerweile nicht mehr recht ziehen. Im Gegenteil, wird nicht sogar oft suggeriert, ein Bemühen um Trennschärfe sei langweilig, spießig und bringe nichts?

Im Wörthersee-Fußballstadion in Klagenfurt stehen noch bis Ende Oktober dort, wo sonst perfekt getrimmter Rasen wächst, rund 300 große Bäume: ein dichter Wald, von den Zuschauertribünen aus zu betrachten. Klaus Littmann, Veranstalter von Kulturprojekten, gab den Anstoß zu dem Projekt und organisierte die Finanzierung, Max Peintner, seit Jahrzehnten in der österreichischen Umweltbewegung engagiert, lieferte mit einer Zeichnung von 1971 (Die ungebrochene Anziehungskraft der Natur) die Vorlage, und Landschaftsarchitekt Enzo Enea sorgte für die Umsetzung.

For Forest – so der Titel des Projekts – soll auf die Bedrohung der Wälder und allgemeiner die Gefährdung des Klimas aufmerksam machen und als fotogener Ökoaktivismus um die Welt gehen. Aber damit nicht genug. So verstehen die Verantwortlichen ihr Projekt zugleich als Kunstintervention, gar als »größte öffentliche Kunstinstallation« Österreichs. Sie wollen also gerade keine klare Trennung zwischen Kunst und Aktivismus, sondern beides ineinander übergehen lassen – dies nicht zuletzt wohl auch, um doppelt punkten zu können. Affinität zur Kunst ist dabei durchaus vorhanden. Littmann studierte bei Joseph Beuys (der 1982 mit seinem documenta-Beitrag 7000 Eichen bereits die »Stadtverwaldung« von Kassel betrieben hatte), während Enea Gründer eines Baummuseums ist, in dem Bäume wie Skulpturen inszeniert und mit Kunstwerken in Korrespondenz gebracht werden. Peintner schließlich, ursprünglich Architekt, kann sogar auf eine künstlerische Karriere als Maler verweisen, die ihn 1986 bis auf die Biennale nach Venedig brachte.















Für Kunst galt es lange als wichtig, sie strikt abzugrenzen und vor Verwechslungen mit anderem zu schützen. Man mochte es zwar, wenn einzelne Werke vieldeutig waren, doch Kunst sollte Kunst sein
Foto: Gerhard Maurer













For Forest
ist nicht mehr als eine weitere Arbeit in der Logik von Readymade und Surrealismus: Etwas wird an einen anderen Ort gebracht und zum Exponat gemacht

Tatsächlich würde man sich aber nicht wohl fühlen, sähe man For Forest rein als Kunst an. Denn als solche ist das Projekt nicht mehr als eine weitere Arbeit in der Logik von Readymade und Surrealismus: Etwas wird an einen anderen Ort gebracht und zum Exponat gemacht. All die Floskeln von veränderter Wahrnehmung und Verfremdungseffekten, die zum Nachdenken anregen sollen, sind zwar nicht falsch, aber Jahrzehnte nach den großen Werken der Land Art und im Vergleich etwa zu Aktionen von Christo und Jeanne-Claude wirkt For Forest weder originell noch besonders mutig. Die Kunst wird damit jedenfalls nicht im Geringsten bereichert.

Dass das Projekt in der vielfältigen Berichterstattung jedoch kaum einmal als Kunst kritisiert wird, belegt wiederum, wie stark das Interesse an genuinen, trennscharfen Kriterien geschwunden ist. Als Ökoprojekt hingegen stößt For Forest durchaus auf Widerstand, wird dessen Glaubwürdigkeit doch vor allem wegen der ressourcenaufwendigen Logistik der Baumverpflanzungen geschwächt.

Doch wenn man sowohl auf die strenge Kunstbrille als auch auf Nachhaltigkeits-Berechnungen verzichtet und zulässt, dass das Projekt so uneindeutig sein darf wie der Gegenstand, den Sokrates einst am Meeresufer fand, dann kann man ihm mehr abgewinnen. Ist es nicht einfach ein starkes Erlebnis, auf ein Stück sorgfältig komponierten Walds – aus markanten Exemplaren unterschiedlicher Baumarten – blicken zu können? Im selben Stadion, wo sonst Lärm und durchkommerzialisierte Action herrschen, ist es auf einmal so ruhig wie in einem japanischen Garten. Und gegen Umweltzerstörung wird ausnahmsweise nicht demonstriert, indem kaputte Natur gezeigt, sondern indem daran erinnert wird, wie schön sie sein kann. Die Veranstalter riskieren, die Fußballfans, die am selben Ort starke Emotionen ausleben, gegen sich aufzubringen, aber sofern sie ihr Projekt, wiederum im Unterschied zu vielen anderen, nicht nur als Heimspiel unter ihresgleichen veranstalten, haben sie auch die Chance, Menschen für die Anliegen des Umweltschutzes zu erreichen, die sich bisher kaum dafür interessiert haben.

Gerade weil For Forest weder ein eindeutiges Kunstwerk noch typischer Ökoaktivismus ist, hat das Projekt eine eigene Qualität. Hier werden herkömmliche Kriterien aus zwei Bereichen neu gemischt, und man braucht etwas Ambiguitätstoleranz, um nicht nur zu sehen, was es nicht ist, sondern um auch würdigen zu können, was es ist. So wenig das Projekt For Forest also ein Gewinn für die Kunst sein mag, so sehr profitiert es davon, dass es keine reine Kunst ist – dass man es mit anderem verwechseln kann.

Wolfgang Ullrich, geb. 1967, lebt als freier Autor und Kulturwissenschaftler in Leipzig. Er publiziert zur Geschichte und Kritik des Kunstbegriffs, zu bildsoziologischen Themen und zur Konsumtheorie. Zuletzt erschien von ihm Selfies. Die Rückkehr des öffentlichen Lebens im Verlag Klaus Wagenbach. Mehr unter www.ideenfreiheit.de