Folge 6: Duchamp ist sein Anwalt

Das Verhältnis zwischen Kunst und anderen Bereichen wie Mode, Design, Politik oder Wissenschaft ist kompliziert geworden. Oft ist nicht mehr klar, ob es sich bei den gegenseitigen Annäherungen um eine raffinierte Strategie oder um ein Versehen handelt. Es droht Beliebigkeit – doch jenseits alter Grenzen und Kategorien entsteht etwas Neues VON WOLFGANG ULLRICH

6. Februar 2020

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Klare Grenzen zwischen Kunst und Design, Kunst und Architektur, Kunst und irgendetwas anderem zu ziehen, war eines der markantesten Merkmale der gesamten westlichen Moderne. Dabei schätzte man Kunst umso höher ein, je freier sie betrieben wurde, während alles, was sie »angewandt« sein ließ, ihren Rang von vornherein minderte.

Vor der Moderne hätte diesen Rigorismus, dieses Streben nach Unverwechselbarkeit hingegen niemand verstanden. Ein Hofkünstler war für alles von der Tischdekoration bis hin zu Herrscherporträts zuständig. Und nicht wenige Künstler der Renaissance oder des Barock definierten sich darüber, möglichst viel Unterschiedliches zu beherrschen. Sie hatten entweder einen sehr weiten Begriff von Kunst oder sahen sich nicht speziell und ausschließlich als Künstler.

Gerade deshalb werden sie nun aber wieder zum Vorbild einer neuen Generation, für die die Trennlinien der Moderne (und auch der Postmoderne, die diesbezüglich noch vor allem »modern« war) nicht länger gelten.

So beginnt ein Aufsatz über Virgil Abloh, den wohl auffälligsten Kopf dieser neuen Generation, mit einem Vergleich zwischen ihm und Michelangelo. Wie dieser, obwohl eigentlich Bildhauer, 1508 den Auftrag bekommen habe, die Sixtinische Kapelle auszumalen, so sei Abloh, obwohl ursprünglich Architekt und Künstler, 2018 zum Markenchef der Männerabteilung von Louis Vuitton (und damit zu einem der wichtigsten Entscheidungsträger der Modewelt) ernannt worden.

Dies schreibt die Schriftstellerin Taiye Selasi, und ihr Aufsatz ist – als brillantester Beitrag – Teil eines Katalogs, der unter dem Titel Figures of Speech eine gleichnamige Ausstellung begleitet, die als erste große Retrospektive Ablohs (der erst 39 ist) bezeichnet werden kann. Sie startete im Juni 2019 im Museum of Contemporary Art in Chicago (in einem Vorort der Stadt wuchs er als Sohn von Einwanderern aus Ghana auf) und wird 2021 nach etlichen Stationen im Brooklyn Museum in New York enden.

Zu sehen sind T-Shirts, Kleider und Sneaker, aber genauso Installationen, Skulpturen und Gemälde. Dabei ist nie eindeutig, welchem Bereich ein Exponat angehört. In Zeiten, in denen das Prinzip des Readymades universell geworden ist, können Sneaker genauso Kunst wie Mode sein, gemalte Bilder aber ebenso Teil einer Laufsteginszenierung wie etwas, das sich der Geschichte von Malerei oder Konzeptkunst verpflichtet fühlt.

Marcel Duchamp sei sein »Anwalt« (»Duchamp is my lawyer«), sagt Abloh selbst – für den Fall, dass doch noch jemand bezweifeln sollte, ob Kunstmuseen der richtige Ort für seine Werkschau sind.

Zugleich aber klassifiziert Abloh seine Arbeiten eindeutig und nach herkömmlichen Kategorien. Er unterscheidet zwischen Malerei, Architektur, Grafikdesign, Fotografie, Skulptur, Mobiliar, Produktdesign, Mode, Inneneinrichtung, Bühnenbild und Cover-Gestaltung – und sieht darin jeweils eigene Disziplinen (»disciplines«). Damit signalisiert er nicht nur, dass er die verschiedenen Arbeiten als gleichberechtigt – als miteinander vergleichbare Leistungen – ansieht, sondern erklärt sich vor allem auch zu einem neuen Typus von Mehrkämpfer. Es macht ihn stolz, nicht nur in einem Bereich aktiv zu sein. Und daher passt der Vergleich mit einem Meister der Vormoderne wie Michelangelo.

Taiye Selasi erklärt Ablohs Streben nach Multidisziplinarität mit Erfahrungen, die aus seiner Herkunft resultieren. So war er damit konfrontiert, als Schwarzer auf ein enges, vorgegebenes Feld an kulturellen Äußerungsformen beschränkt zu werden. Hip-Hop zu machen, war kein Problem oder sogar das, was man von jemandem wie ihm erwartete, aber dass es ihm als Jugendlichem gelang, sich zugleich als Skater und damit in einer Domäne der Weißen zu betätigen, stellte schon einen Akt der Rebellion dar. Grenzen zu überschreiten, wurde für ihn von da an zu einer Frage der Emanzipation – zur Chance, sich aus einer unterprivilegierten, diskriminierten Lage zu befreien.

Dass Abloh nun gerade die Grenzen zwischen Kunst, Mode, Design und Architektur überwindet und alles gleichermaßen für sich in Anspruch nimmt, lässt sich als Reaktion darauf verstehen, dass die gesamte westliche Moderne gegenüber anderen Ethnien und Kulturen und insbesondere gegenüber Schwarzen sehr ignorant und exkludierend war.

Warum also sollte jemand ihre Grenzen, ja Hierarchisierungen wie die zwischen »frei« und »angewandt« oder zwischen high und low weiter anerkennen, der in ihr – und zwar in der »Hochkunst« nicht anders als in der haute couture – gar nie erwünscht war?

Daher hat es auch eine politische Dimension, wenn Abloh sich nicht damit begnügt, im Luxuslabelbereich aktiv zu sein, sondern wenn er genauso Kooperationen etwa mit IKEA eingeht und dabei das Anliegen verfolgt, Produktideen, die zuvor einer reichen Minderheit vorbehalten waren, kostengünstig und in hoher Auflage zu vertreiben. Nachdem er zuerst die Disziplinen der weißen Eliten wie Trophäen für sich erobert hat, bringt er nun also deren angestammte Ordnung durcheinander.

Auch der Name seines 2013 gegründeten Luxuslabels Off-White kündet von dem Anspruch, das bisherige weiße Monopol auf imagestarke, teure Mode hinter sich zu lassen. »Neunundneunzig Prozent meiner Arbeit bestehen darin, Klischees aufzubrechen und neue Narrative dafür zu finden, wie Kunst und Design von Schwarzen aussehen«, sagt Abloh über sein Programm. Einer seiner jüngsten Coups ist ein Projekt, das Off-White 2019 aus Anlass der großen Leonardo-Ausstellung im Louvre entwickelt hat. Es besteht aus T-Shirts und Hoodies mit Motiven Leonardos.

Vor allem aber gibt es Abloh die Gelegenheit, sich in Interviews und Social Media-Auftritten zu Leonardo zu äußern – und dessen große Leistungen in vielen Disziplinen, von der Malerei bis zum Ingenieurswesen, hervorzuheben. »Ich versuche, das ebenfalls zu tun«, verkündet er nicht unbescheiden und bekräftigt so einmal mehr, die Grenzziehungen der Moderne endgültig überwinden zu wollen.

Wolfgang Ullrich, geb. 1967, lebt als freier Autor und Kulturwissenschaftler in Leipzig. Er publiziert zur Geschichte und Kritik des Kunstbegriffs, zu bildsoziologischen Themen und zur Konsumtheorie. Zuletzt erschien von ihm Selfies. Die Rückkehr des öffentlichen Lebens im Verlag Klaus Wagenbach. Mehr unter www.ideenfreiheit.de